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Bärenbegegnung im Wald

// Kathinka Enderle //
Spiegel der patriarch­alen Gesellschaft?
© freepik
Jugendliche und junge Erwachsene verbringen einen großen Teil ihrer Freizeit auf Social Media Plattformen wie TikTok, wo sie nicht nur Unterhaltung und soziale Interaktion finden, sondern auch Raum für vielfältige Diskussionen genießen. Kürzlich wurde über die Frage diskutiert, ob man lieber einem Mann oder einem Bären alleine im Wald begegnen möchte.
Warum wählt Frau lieber einen Bären anstelle des Mannes?
Was auf den ersten Blick wie eine humorvolle, triviale Frage erscheint, enthüllte tief verwurzelte gesellschaftliche und patriarchale Probleme. Der Großteil junger Frauen bevorzugte eindeutig den Bären. Diese Präferenz wirft Fragen auf: Was sagt uns das über die bestehenden Geschlechterungleichheiten und das patriarchale System, das solche Ängste hervorruft? Warum wählt Frau lieber einen Bären anstelle eines Mannes?
Weibliche Kommentare wie diese sind erschütternde Antworten darauf:

– Der Bär würde mich als menschliches Wesen sehen.
– Man wird mich nicht fragen, was ich getragen habe, wenn der Bär mich attackiert.
– Ich werde den Bär nicht auf Familienfeiern sehen müssen.
– Der Bär würde sich nachher nicht entschuldigen und versprechen, es nie wieder zu tun, nur um das Versprechen dann wieder zu brechen.
– Der Bär würde mich danach nicht säubern und mir sagen, ich solle es nicht Mami sagen.
– Der Bär würde meinen Körper töten, aber der Mann würde meine Seele zerstören.

Unterschiedliche Reaktionen
Männer reagierten auf diesen Trend unterschiedlich - manche reflektiert, andere weniger. Viele zeigten sich aufgebracht darüber, dass diese Diskussion überhaupt geführt wird, während sich andere erschüttert über die gegenwärtigen Sicherheitsbedenken von Frauen und marginalisierten Gruppen zeigten. Was sagt uns die Aufregung mancher Männer über ihre Wahrnehmung dieser Probleme? Und welche tiefen Ängste und Sorgen offenbaren die Reaktionen von Frauen?

Nicht jeder Hai beißt, aber würdest du in ein Haibecken springen?
Diese Diskussion richtet sich nicht gegen Männer an sich. Wenn Frauen sich freiwillig entscheiden, lieber einem Bären anstatt einem Mann im Wald zu begegnen, ist das ein verzweifelter Schrei, um auf bestehende Probleme provokativ aufmerksam zu machen. Es geht nicht darum, Männer und Frauen zu trennen oder einen Angriff auf das männliche Geschlecht zu starten, sondern um das Hervorheben der tief liegenden Angst vor Misshandlung, Vergewaltigung und sogar Mord. Eine Userin formulierte es in einer weiteren Diskussion so: „Nicht jeder Hai beißt, aber würdest du in ein Haibecken springen?“

Verantwortung, Ängste und Sorgen ernst nehmen
Diese Debatte fordert uns auf, nicht nur über die Position von Frauen in unserer Gesellschaft nachzudenken, sondern auch über die dringend notwendige Veränderung, damit Diskussionen wie diese nicht mehr notwendig sind. Sind wir als Gesellschaft bereit, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um diese Veränderungen herbeizuführen? Und wie können wir als Gesellschaft Ängste und Sorgen von Frauen ernst nehmen und angehen? Welche Verantwortung tragen wir alle, um eine sicherere Umgebung zu schaffen? Ist jede*r einzelne bereit, das eigene Verhalten, ob positiv oder negativ, zu überdenken und sich zu fragen, was man selbst Gutes beitragen kann? Sind Sie dazu bereit?

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Angst vor der nächsten Absage

// Heidi Ulm //
Unsichtbare Barrieren für Menschen mit Behinderung
© Henry Co - unsplash
Viele Menschen mit Behinderungen (MmB) stehen bei ihrer Arbeitssuche vor einer Mauer aus Ablehnung und Vorurteilen. Das ist oft entmutigend und belastend für die Betroffenen. Meine eigenen Erfahrungen zeigen, wie groß die Herausforderungen sind.
Nach einem sehr guten Schulabschluss fand ich in einer aufstrebenden Südtiroler Firma, die Elektroladesäulen herstellt, einen wirklich guten Arbeitgeber. Später nahm ich ein Studium auf, doch nach meinem Abschluss begann die eigentliche Odyssee der Arbeitssuche. Das für mich eindringlichste Ereignis war ein Bewerbungsgespräch in einem Bozner Hotel. Der Chef sprach offen über seine Bedenken. Er hätte Angst ob die Kundschaft meinen fehlenden Arm gut aufnehmen würde, aber mit Blazer und hinter der Rezeption, sähe man es hoffentlich nicht. Zum Schluss gab es neben seinen ableistischen Sätzen noch eine rassistische Bemerkung. Lieber als eine Ausländerin nehme er dann doch eine behinderte Einheimische. Fassungslos lehnte ich die Stelle mit einer anschließenden Erklärungsemail ab. Eine Antwort oder Entschuldigung fehlt bis heute.

Magdalena Oberrauch, Direktorin des Landesamts für Arbeitsmarktintegration, möchte solchen Situationen entgegenwirken und schildert in einem Gespräch, wie Menschen mit Behinderung beim Einstieg in den Arbeitsmarkt unterstützt werden und welche Herausforderungen dabei zu bewältigen sind.

Zwei Gesichter des Arbeitsmarktes
Auf die Eingangsfrage zur allgemeinen Einschätzung der Situation auf dem Arbeitsmarkt für MmB erklärt Oberrauch, dass dieser derzeit von zwei Entwicklungen geprägt ist: Auf der einen Seite eröffnet der Personalmangel neue Chancen für MmB. Immer mehr Betriebe erkennen, dass die Integration von Menschen aus Minderheiten viele Vorteile hat. Auf der anderen Seite wird die Arbeitswelt zunehmend komplexer und einfache Tätigkeiten, die oft von MmB ausgeübt wurden, verschwinden. Beispielsweise Berufsbilder wie das des Portiers sind heute fast ausgestorben. Die Folge: Eine Gruppe von Menschen ist schwierig zu vermitteln. „Das sind ältere Personen, die zwanzig Jahre in einem Beruf waren, einen Handwerksberuf ausgeübt haben und das nicht mehr können, aber gleichzeitig auch keine Computerkenntnisse haben oder nicht zweisprachig sind“, gibt die Amtsdirektorin offen zu.

Bürokratische Hürden und Wartezeiten
„Wir haben circa 3.000 offene Stellen auf 400 Menschen, die in unseren Listen eingetragen sind“, schildert Oberrauch. Diese Zahlen lassen eine gute Situation vermuten, aber spiegeln sie die Realität wieder? Die Amtsdirektorin klärt auf, dass sich nicht jede*r in den Listen des Amtes für Arbeitsmarktintegration eintragen kann und es ein bürokratischer und zeitlicher Aufwand ist. Die erste Voraussetzung ist eine anerkannte Zivilinvalidität. Die zweite Voraussetzung ist die Einschätzung einer (Rest)Arbeitsfähigkeit vonseiten einer Ärztekommission. Dieser Prozess kann mehrere Monate dauern. Und ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen: Das ist für viele bereits die erste große Hürde. Das lange Warten und die damit verbundene Arbeitslosigkeit... (wie die anderen Meinungen...) danke!

Vom Schulabschluss ins Berufsleben
Um diese Problematik abzumildern, legt das Amt für Arbeitsmarktintegration einen besonderen Fokus auf den Übergang von der Schule ins Berufsleben. Nach der Schule können Arbeitseingliederungsprojekte beginnen, ohne dass die jungen Menschen sofort durch die Ärztekommission müssen. Diese Projekte, die bis zu zwei Jahre dauern können, sollen den Jugendlichen helfen, ihre Talente zu entwickeln und sich auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten. „Zwar sind diese Personen nur über Projekte beschäftigt, aber wenn sie gleich in die Kommission gehen, ohne erst Erfahrungen gemacht zu haben, kann es zu Fehleinschätzungen kommen", erläutert Oberrauch.

Gesetzliche Vorgaben und fehlende Sanktionen
Das italienische Gesetz 68/1999 schreibt vor, dass Unternehmen mit mindestens 15 Mitarbeitenden eine Person mit Behinderung einstellen müssen. Bei Unternehmen mit 35 bis 50 Mitarbeitenden sind es zwei MmB, und bei größeren Unternehmen muss sieben Prozent der Belegschaft aus MmB bestehen. Anstatt auf Sanktionen zu setzen, strebt das Amt für Arbeitsintegration einen konstruktiven, sensibilisierenden Dialog mit den Betrieben an, um Vorurteile abzubauen und die Anstellung von MmB zu fördern.

Ich frage mich dennoch, ob Strafen, wenn sie hoch genug sind, in unserem neoliberalen Kapitalismus nicht doch ihre Wirksamkeit hätten. Vielleicht hätte ich statt unzähliger Absagen und Enttäuschungen auch mal eine Zusage erhalten. Hohe Strafzahlungen gibt es auch bei Nichteinhaltung der Brandschutzverordnungen – und kaum ein Unternehmen nimmt diese in Kauf. Warum also nicht auch bei der Inklusion?

Finanzielle Anreize als Teillösung
Ein zentrales Element der Strategie des Amtes für Arbeitsintegration sind finanzielle Förderungen, die Betriebe für die Einstellung von MmB erhalten. Ab Februar 2025 treten neue Regelungen in Kraft, die die Förderungen weiter differenzieren. Besonders interessant ist dabei, dass Betriebe, die nicht zur Anstellung von MmB verpflichtet sind, deutlich höhere Förderungen erhalten als solche, die gesetzlich dazu verpflichtet sind. Diese Unterscheidung soll Unternehmen, die freiwillig MmB einstellen, zusätzlich motivieren.
Die Förderungen teilen sich außerdem in eine Anstellungsprämie und eine Stabilitätsprämie auf. Letzteres erhalten nur jene Betriebe, die ihre Mitarbeitenden langfristig beschäftigen.

Angst vor erneuter Ablehnung
Trotz aller Bemühungen des Amtes für Arbeitsmarktintegration gibt es weiterhin Betriebe, die zögern, MmB einzustellen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Menschen, die mehrere Stellenangebote ablehnen. Oberrauch ist jedoch überzeugt, dass dies nicht aus mangelnder Motivation geschieht, sondern vielmehr an der Angst vor erneuten negativen Erfahrungen. Das Amt versucht dem entgegenzuwirken, indem es gezielt nach der „perfekten“ Stelle für die Betroffenen sucht.

Nach meinem Gespräch mit Magdalena Oberrauch wurde mir klar, dass die Arbeitssuche über das Amt für Arbeitsmarktintegration in einer unterstützenden und sensibilisierten Umgebung stattfindet. Doch die auf sich allein gestellte Suche bleibt für viele MmB ein Kampf – ein Kampf gegen Vorurteile, gegen Bürokratie und manchmal auch gegen die eigenen Ängste. Die Arbeit des Landesamtes hilft jedoch die eingangs erwähnten Mauern von Ablehnung und Stereotypen abzubauen.